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Der nachfolgende Kommentar betrifft das Thema der Bildungsungerechtigkeit, von der sozial benachteiligte Kinder, Jugendliche und deren Familien während der Corona Pandemie im besonderen Maße betroffen sind. Kommentator*innen sind pädagogische Fachkräfte, die beim Verein Lenzsiedlung e.V. in gleichnamiger Hochhaussiedlung in Hamburg in der (außerschulischen) offenen Sozial- und Gemeinwesenarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien tätig sind.
Ungleichheit wird in der Pandemie spürbar. Denn es macht einen Unterschied, ob eine Familie in einem Anwesen mit mehr als ausreichend Raum wohnt, WLAN, Endgeräte für Homeschooling und –office, Bildung und Sprachfähigkeit sowie Geld, Arbeit und Zuversicht in eine gelingende Zukunft vorhanden sind oder ob sie in einer Wohnung mit mehr Familienangehörigen als Räumen sowie einer beengten Wohnung lebt, mangelhafte technische Ausrüstung für Schule und Arbeit von Zuhause und zu geringe oder andere Bildungs- und Sprachfähigkeiten hat, um den Kindern zu helfen und Angst um Arbeit, Geld- und Zukunftssorgen die Atmosphäre bestimmen.
Diese Zuschreibung kann in ihrer polaren Zuspitzung nur idealtypisch sein. Die Ungleichheit im Erleiden der pandemischen Auswirkungen indes sind real.
Wir Kolleg*innen vor Ort hören täglich in Gesprächen von den besonderen Schwierigkeiten, die die Umsetzung der behördlichen Verfügungen den Familien daheim bereiten, von der finanziellen Not, die gesamte Familie durchgehend mit Lebensmitteln zu versorgen, den Streitereien und psychischen Belastungen auf engs-tem Raum, der Resignation von Eltern, die die Erkenntnis mit sich bringt, die Kinder nicht ausreichend bei ihren schulischen Aufgaben unterstützen zu können, die Sorgen um den Verlust von Arbeit und die Angst vor der Ungewissheit der Zukunft. Das Virus wirkt bei den ohnehin stark belasteten Familien auf verschiedenen Ebenen wie ein Turbo. Ohnehin schon existente Stigmatisierung, Not und Ausgrenzung verschärfen sich immens, auch wenn das nicht unbedingt offensichtlich ist.
Am Beispiel des Fernschulunterrichts wird die ungleiche Lage in dieser Zeit besonders deutlich. Bereits nach der „1. Welle“ im Juni großmundig versprochene Endgeräte für Schulen bzw. Schüler*innen sind größtenteils bis heute nicht bei Adressaten angekommen, zumindest gibt es hier große Unterschiede zwischen den Schu-len. Verschärft wird die Bildungsungerechtigkeit durch eine Hamburger Schulpolitik, die von Lehrkräften, Eltern und vor allem Schülerinnen und Schülern selbst in dieser bedrohlichen Ausnahmezeit ein Festhalten an Lernzielen abverlangt, die für eine normale, alltägliche Lebens- und Lernsituation konzipiert wurden und selbst zu normalen Zeiten eine Herausforderung sind. Das grenzt an Ignoranz, zeigt zumindest ein hohes Maß an Unwissenheit der realen Lebensumstände vieler Familien.
Kindern und Jugendlichen vorzugaukeln, ein normales „weiter so“ in gewohntem (Lern-)Tempo sei möglich, wenn sich nur ausreichend angestrengt werde, ist realitätsfern. Alternativen für Leistungsbeurteilungen der Schüler*innen müssen gefordert und gefunden werden. Eine Bewertung der Leistungen muss den Grundsatz der Chancengleichheit und damit die besondere Lage in der Pandemie berücksichtigen.
Daran wird auch das „Erfolgsmodell der Hamburger Lernferien, um Schülerinnen und Schüler in Hamburg […] zielgerichtet zu fördern und den Lernerfolg aller sicher zu stellen“ nichts ändern, wie es in einer Handreichung der Hamburger Schulbehörde heißt, die sich zuallererst an die Schulen mit schwachem Sozialindex und also an besonders benachteiligte Schüler*innen richtet.
Derartige Bemühungen der Schulpolitik geben den Anschein hilfreiche zu sein, Unterstützung zu leisten, nehmen aber just jenen ohnehin benachteiligten Kindern die bedeutsame Regenerationszeit und tauschen sie in Schulzeit um. Jugendliche, die ob der Situation vollends schulisch resigniert sind werden durch diese Angebote ohnehin nicht erreicht. Die Zeche für das Festhalten an den Zielen der Schulcurricula zahlen am Ende die Kinder und Jugendlichen. Unsere Erfahrung ist, dass die Ungleichheit und damit die Benachteiligung von ohnehin randständigen Kindern zusätzlich verschärft werden.
Wir Erwachsenen spüren, wissen und erleben es tagtäglich Zuhause, bei der Arbeit und auf der Straße: Normalität ist seit dem Auftritt des Virus verschwunden. Wir erleben psychische Belastungen und stöhnen über die nicht enden wollende Pandemie. Wir tauschen uns darüber aus, wie anstrengend der Alltag geworden ist mit all den AHA-Regeln, wie herausfordernd die beruflichen Aufgaben und die Mehrfach-Belastungen mit Arbeit, Haushalt, Kindern und Homeschooling sind. Und wir sehen, wie unsere Kinder und Jugendlichen bemüht sind, sich in dieser desorientierenden Zeit irgendwie zu orientieren, sich an Regeln zu halten, den Anschluss an Schulaufgaben nicht zu verlieren, die starken Kontaktbeschränkungen ein-(und aus-)zuhalten, obwohl sie sich nach Kontakt und Zusammensein mit Gleichaltrigen sehnen. Wenn ihnen Erwachsene dann vermitteln, sie müssten sich noch mehr anstrengen, um den schulischen Herausforderungen zu genügen, hätten noch nicht genug getan oder sich noch nicht richtig genug verhalten kommt das einer unerfüllbaren Forderung gleich. Und es verschärft hausgemacht den Druck in dieser druckvollen Zeit, statt zu entlasten, sich empathisch und lösungsorientiert zu verhalten und das Leben für Kinder, Jugendliche und uns selbst möglichst aushaltbar zu gestalten.
Ein erster Schritt in einer Krise ist, eben diese als solche anzuerkennen.
Erkennen wir an, dass es eine krisenhafte Zeit für uns, unser soziales Zusammenleben, unsere Gesellschaft ist. Sehen wir ein, dass wir nicht so viel zu leisten in der Lage sind. Akzeptieren wir, dass es uns „schlecht“ geht, wir uns eingeengt, unfrei und angstvoll fühlen, dass wir kurz- und mittelfristig keinen Silberstreif am Horizont erkennen können. Gestehen wir uns ein, dass uns der Kontakt zu Familie, Freund*innen, zu anderen Menschen fehlt. Zeigen wir Verständnis für unsere Kinder, für unsere Jugendlichen, die ihr Bestes geben, in dieser Krise zurecht zu kommen in Schule, Zuhause und in der Öffentlichkeit und genauso Angst, Sorgen und ein Eingeengt Sein empfinden.
Ein nächster Schritt sollte sein, dem bewussten Eingestehen Taten folgen zu lassen. Wir sollten uns selbst, unseren Kindern und anderen Menschen nichts Unmögliches abverlangen, wir sollten akzeptieren, dass Leis-tungen nicht in dem Maße erbracht werden können wie zu normalen Zeiten. Es geht Vieles langsamer vonstatten, manchmal ist es zäh und mühsam, ein Tagesziel zu erreichen.
Die Schüler*innen werden am Ende des Schuljahres nicht das gleiche Pensum geschafft haben (können), wie zu krisenfreien Zeiten. Wieso dem nicht schon jetzt Rechnung tragen? Loben wir die Kinder und Jugendlichen für ihre Bemühungen, die Krise auf ihre Weise zu meistern, erkennen wir ihre Anstrengungen an, sich zurechtzufinden und die Krise nach Kräften zu durchleben.
Dafür tragen wir Erwachsenen die Verantwortung, die als Profis in Politik, in der öffentlichen Verwaltung, bei freien Trägern sowie in allen beruflichen Einsatzbereichen tätig sind, die über das Leben von Kindern mitbestimmen. Haben wir Verständnis füreinander und vor allem für die Kinder und Jugendlichen in dieser schwie-rigen Zeit. Wir sind in einer gesellschaftlichen Krise, Handeln wir danach.
Das Team von Lenzsiedlung e.V. 15.02.2021